Von der Option des Zurücks

Bühne & Klassik // Artikel vom 16.12.2016

Lucy ist jung und hat Krebs.

Mit ihrem Wunsch, dagegen anzukämpfen, durchbricht sie die moralischen Vorstellungen ihres Umfelds, für das ein frei gewählter Tod selbstverständlich ist. Konstantin Küspert stellt in seinem Stück „Sterben helfen“ ab 16.12. am Staatstheater Karlsruhe eine fiktive Versuchsanordnung her, die Regisseurin Marlene Anna Schäfer erläutert.

INKA: Wie wird das Thema Sterbehilfe im Stück diskutiert? Mit Pro und Contra wie in der Schule?
Marlene Anna Schäfer: Explizit wird im Stück gar nicht über passive und aktive Sterbehilfe diskutiert. Vielmehr ist es ein Gedankenexperiment: Was wäre, wenn jeder Mensch auf der Welt einen eigenen Inhalator hätte, mit dem man sich selbst jederzeit töten könnte, sobald man nicht mehr leben möchte? In der hier skizzierten Gesellschaft ist es keine Frage der Moral mehr, ob man sich töten darf – es ist die Normalität. Ich sieche nicht krank dahin, ich leide nicht, und ich mache nochmal ein richtig großes Fest für meine Angehörigen zum Abschied, mit gemeinsamem Essen, einem Schluck Sekt, dem Inhalator – und am Schluss erfolgt die Beisetzung.

INKA: Und es gibt eine konkrete Geschichte...
Schäfer: …ja, in dieser Welt erfährt die 30-jährige Lucy, die eine Frau und einen Sohn hat, von ihrer Krebserkrankung und entscheidet sich, gegen die Krankheit zu kämpfen. Damit ist sie Exotin: Niemand versteht ihren Vorgang, keine Krankenkasse zahlt mehr fürs Weiterleben und der Arzt bescheinigt ihr geringe Überlebenschancen. Ihre Frau unterstützt Lucy zwar in ihrem Kampf, ist aber in dieser Gesellschaft aufgewachsen und hat positive Erfahrungen mit dem freiwilligen Tod gemacht. Ihren Konflikt möchte ich gerne herausarbeiten: Wo komme ich her? Was ist, wenn der Mensch, den ich liebe, etwas will, was mit meinen Vorstellungen gar nicht übereinstimmt? Wie weit kann ich gehen? Gibt es den Punkt, an dem ich sage: „Hör auf! Nimm den Inhalator! Ich halte dich nicht aus in deinem Sterben! Ich sterbe ja mit!“?

INKA: Laut einer Umfrage in Deutschland würden 70 Prozent der Befragten selbst aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen, wären sie schwer krank. Sind wir gesellschaftlich mittlerweile so offen dafür?
Schäfer: Ich weiß es nicht. Wir leben in einer Art postreligiösen Gesellschaft, in der Suizid keine Todsünde mehr ist. Ich als junger Mensch habe zuvor nicht groß über Sterbehilfe nachgedacht. In einer Doku berichtete ein Palliativmediziner davon, wie sich der Wunsch, sofort zu sterben, verändern würde, wenn man gute Medikamente bekäme und Sterben nicht nur Schmerz und Leid bedeuten würde. Das finde ich spannend – auch, dass eine betroffene Person ganz widersprüchliche Wahrnehmungen haben kann: Der Wunsch nach dem schnellen Tod kann sich durchaus abwechseln mit dem Bedürfnis, noch so viel erleben zu wollen, weiterzumachen. Man denkt ja immer, man müsse sich für eine Sache entscheiden, auch in der Darstellung einer Theaterfigur. Aber auch der Wunsch nach dem Tod kann sich noch einmal umkehren. Die Option eines Zurücks, die vorhanden bleiben soll, ist eine grundlegende Eigenschaft des Lebens. -fd

Premiere: Fr, 16.12., auch: Mi, 21.12. + Di, 27.12., je 20 Uhr, Badisches Staatstheater, Studio, Karlsruhe

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