Andreas Mattes, Hochverräder

Porträt
Hochverrad

„Karlsruhe, Berlin des Südens!“ Wer auch immer das aufgebracht hat, hoffentlich war’s Selbstironie, nicht Hybris. Und doch: Bei ganz bestimmtem Lichteinfall in sehr gewissen Stunden könnte man sich rings um den Gutenbergplatz tatsächlich in einem der berühmten Kieze der Hauptstadt wähnen… Oder man begibt sich in einen Innenhof der ansonsten kreuzbraven Südweststadt. Warum das? Nun, die Werkstatt nebst Gebrauchtfahrradschau nebst Beratungsservice bei Zweiradfragen unterscheidet sich schon optisch fundamental von allen anderen Läden der Stadt, die sich in etwa demselben Aufgabengebiet widmen.

Es ist unwahrscheinlich, hier dem neoklassischen Wheelie-Jargon zu begegnen: „Hast du den Joey auf seinem Biobike den Double casen sehen?“ Aber auch der solvente Vorortvati im Ausgehanzug, der für Sohnemännchen ein „ordentliches Radd für den Schulweech“ zu erstehen wünscht, geht eher woandershin. Stattdessen Hinterhofstimmung. Halbrepariertes lehnt an Pflanzbottichen, nebenan sprossen richtige Gärten mit Blumen und Gemüse, drum herum Jahrhundertwenderückseiten mit Balkons. Da spielt ein Radio, dort gibt es Familienkrach, hier begrüßt eine Nachbarin die andere von Fenster zu Fenster wie seit 45 Jahren schon: „Was macht ihr zum Mittagessen?“ – „Kohl.“ So ist es richtig. Fehlt nur der Leierkasten. Stattdessen ein Flachbau, der jeden Meister-Eder-Werkstatt-Lookalike-Wettbewerb gewönne…

Mit Besonnenheit nimmt der Fachmann die Wünsche der Kundschaft entgegen, mit Akribie begutachtet er die mitgebrachten Räder, mit sanftem Optimismus wagt er die Prognose, dass der Eingriff gut verlaufen werde: aber nicht unbedingt diese Woche. Nein, Effizienzia, die Göttin der Hektik, hat die Gebhardstraße noch nicht gefunden; möge sie diesen seltenen Hort der inspirierten Anschauungspraxis auch fürderhin verschonen! Der Name Hochverrad deutet darauf hin, dass es sich bei Andreas Mattes um einen Deserteur der Fahrradindustrie handelt. Im Gegensatz zu den allermeisten kümmert er sich auch noch um betagte Drei- bis Eingangräder, im Einsatz für Erstradler, Berufsmenschen und Seniorinnen gleichermaßen. „Da sind oftmals so schöne Stücke drunter und so gut gebaut, die fahren noch in Jahrzehnten herum, wenn andere schon längst wieder Schrott sind.“ Dies führt uns zu den Anfängen zurück: Das Gesamtprojekt entstand 2014 nach einem Schrottplatzbesuch „aus der Bierlaune“ heraus. Es gibt schlechtere Anlässe. Hochverrad – den sophistischen Namen kreierte der Slam-Poet Daniel Wagner, das Betriebsdesign schuf das Büro Welt-Räume. Künstlerische Kooperationen. Wie in Berlin!

Die Grundidee war bereits ökologisch in einem umfassenden Sinn: vermeintlich abgenutzte Fahrräder unter Zuhilfenahme moderner Technik wieder in den Kreisverkehr einspeisen. Das funktioniert über www.hochverrad.de: Auf einem Foto lächelt uns das neue Gebrauchtrad schon entgegen. Draufklicken, abholen. Zumindest, wenn genug Räder im Umlauf sind. Ab und zu gibt es Staus, etwa in Seuchenzeiten, wenn auch die Familie mit dem Drittauto noch drei Fahrräder zusätzlich braucht… In diesem Sinne ließe sich Mattes durchaus als Bike Saver bezeichnen; jede Menge Repair-Café-Atmosphäre liefert er gleich mit. Upcycling wäre noch so ein Stichwort, das zwar populär ist, volkswirtschaftlich aber nach wie vor kaum eine Rolle spielt. Hier schon. Was also ist es genau, das einen so einnimmt für diese Hinterhofwerkstatt und ihren Meister Eder: pure Nostalgie? Das wäre zu kurz gedacht. Ohne allzu weit ausholen zu wollen: Es geht darum, was wir mit der Zeitspanne anfangen, die wir auf Erden verbringen dürfen. Lassen wir uns auf Teufel-komm-raus (ja, er kommt!) in Nützlichkeitsprozessen verheizen oder suchen wir uns eine Nische, wo wir einigermaßen artgerecht gehalten werden?

Die klugen Poststrukturalisten haben sich da so ihre Gedanken gemacht, etwa Claude Lévi-Strauss, der die Bricolage, die Bastelei, gegenüber der zieloptimierten Funktionalität im eisernen Gehäuse des Kapitalismus in ihrer Bedeutung hervorhebt. Der Ethnologe und Philosoph findet vielerlei Parallelen zwischen dem Treiben des Bastlers, der mit vorhandenem Material umgeht, und der Verfahrensweise des „wilden Denkens“, wo über Analogieschlüsse und Momententscheidungen Lösungen gefunden werden: auf allen Ebenen, von der Jagd über den Hausbau bis zur Heilkunde. Dass der Bricoleur in manchen Kulturen in die Nähe der Zauberei gerückt wird, darf nicht verwundern, da seine Methode die Vorstellungskraft der anderen sprengt. Dabei nutzt er nur Vorhandenes!

In der Gebhardstraße kauft man nicht einfach ein Fahrrad. Auch die Reparatur funktioniert hier etwas anders als sonst wo: Gemeinsam mit dem Schraubenschlüsselvirtuosen begibt man sich in einen kreativen Prozess, an dessen vorläufigem Ende tatsächlich etwas anderes stehen kann, als sich vorher jemand ausmalen konnte. Mag sein, man trennt sich per Eingebung endlich von einem alten, schweren, immerzu schleifenden Adler-Fahrrad und kommt mit einem wie neuen Rabeneick zurück! Vielleicht wird ein Problem, dessen Lösung schon lange aufgegeben wurde, von Mattes auf unvorhersehbare Weise behoben, indem er etwa aus einem Stück Rohrleitung einen Anschluss für den abgebrochenen Seitenständer schmiedet. Wer kann es wissen?

In Neustadt a. d. Weinstr. ist Mattes aufgewachsen, einem der wenigen Spitzweg-Relikte unter den deutschen Kleinstädten. Womöglich hat ihn ja die lebensbejahende Gemächlichkeit der Rieslingkapitale mit der notwendigen Ruhe ausgestattet, um sich – meist ganz allein – unausgesetzt multifaktoriellen Spontanherausforderungen zu stellen. Gleichzeitig arbeitet er an der immerwährenden Entspießerung Karlsruhes. Das ist gut und auch notwendig. Ob in seiner Werkstatt auch so ein Pumuckl wohnt wie einst beim Meister Eder, haben wir vergessen zu fragen. Wer allerdings einen heimatlosen Kobold mit roter Nase irgendwo entdeckt, könnte ihm den Tipp geben: In der Gebhardstr. 8 im Hinterhof, da ist er richtig! -johu


Kontakt

Hochverrad
Gebhardstr. 8
76137 Karlsruhe

Di-Fr 14-19 Uhr
Sa 11-17 Uhr

0721/466 73 95
www.hochverrad.de


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