Biss zur letzten Rübe – der reinste Genuss (März 2022)

Stadtleben // Artikel vom 02.03.2022

Frühlingswogen

Eine Kolumne von Johannes Hucke, der die Region seit 2007 mit seinen Weinlesebüchern, Kriminalnovellen und Theaterstücken malträtiert. Mittlerweile versucht er, das INKA-SpaßBlatt mit epikureischem Gedankengut zu destabilisieren. Viel Spaß auch.

In und vor allem vor einem Eiscafé in der Südstadt hat eine Zeitlang eine junge Frau mit grüngoldbraunroten Locken gearbeitet, genannt: „Die Venus von Werderplatz.“ Jeder, der sie sah, wollte sofort nach Italien. Und jede auch. Die Sehnsucht nach Alpentranszendenz wurde bei einigen so übermächtig, dass sie zum Bahnhof eilten, um unverzüglich in den Schnellzug nach Mailand zu steigen. Und die andern? Mussten sich halt vor Ort behelfen. Da ist Italien nicht geizig: Auf einer goldenen Spur durch die Stadt kommst du an Dutzenden Pizzerien, Ristorante, Feinkostläden vorbei, immer so positioniert, dass du es gerade noch schaffst. Der Beitrag der italienischen Lebenskunst für die Versüdlichung von Karlsruhe ist nicht hoch genug einzuschätzen; ohne sie dümpelten wir wohl irgendwo auf demselben Breitengrad wie Kassel herum.

Seien wir also nicht heikel, nehmen wir die Einladung an! Das gehört sich so und zeugt von guter Kinderstube. Wir verbinden das mit einem Anlockzauber, einem Frühlingsopfer nach gutem Brauch: Die hektisch tanzenden Tempeltypen ersetzen wir mal durch Brot und Wein, den Tempel durch La Bottega Ecke Karls-/Südendstraße (sic!) und das Opferlämmchen sowieso: durch allerlei Grünes, auch Gelbes, das Weiße nicht zu vergessen. Exemplarisch stehe das Lädchen der Famiglia Moretto für viele solcher Genusskulturzentren, wo auf kleinstem Raum alles, wirklich alles zu finden ist, was die urgermanische Küche zivilisiert hat… einschließlich auch ausgepichte Speisetafeln bereichernder Seltenheiten wie Cima di Rappa (Stängelkohl) oder echtem Löwenzahn. Der feine Mittagstisch hat nicht nur während der Seuchentage Unzählige vor Schlimmerem bewahrt; Antidepressiva wie Gnocchi con pesto tartufo, Pasta al forno oder ausgefallene Fischgerichte dürfen vor Ort wie zu Hause gemümmelt werden: eine einzige Freude!

Folgendermaßen: Statt Pinno Kritscho erwerben wir eine Bouteille Fiano (schon antike Autoren betonen seine Frühlingsblütenhaftigkeit) sowie einen sonnenintensiven Bianco Paiara. Das war der Wein, jetzt kommt das Brot. Und das backen wir uns selber: eine Schiacciata! Lässt jede Focaccia zäh aussehen und die meisten Calzone spontan verflachen. Hierzu bedarf es 500 Gramm Weizenmehls (natürlich von einer winzig kleinen Mühle in Kalabrien), das wir mit Salz und gemahlenen Fenchelsamen versetzen. 200 Milliliter Milch werden erwärmt, im kleineren Teil davon ein dekonstruierter Hefewürfel mit etwas Zucker angesetzt, im Rest ein Stück Butter ausgelassen. Das alles vermanschen wir mit einem Ei, bis ein dicker Bribbel entsteht. Der darf sich, abgedeckt mit einem feuchten Tuch, ein Stündchen im Ofen dehnen, bevor wir den Teig nochmals pitsche-patsche durchwalken und zu einem dicken Fladen formen. Noch mal 15 Minuten gehen lassen, mit Olivenöl und gemörsertem Rosmarin einreiben und bei 160 Grad gut 30 Minuten backen. Wie das duftet!

Zurück in unsere Bottega: Was kaufen wir da alles noch? Fontina oder ähnlichen Käse; wenn wir bei Kasse sind Parma, wenn nicht, Bergschinken (genauso super). Beides stopfen wir scheibchenweise in die quer aufgeschnittene Schiacciata hinein und servieren das warm. Außerdem haben wir Rucola erworben, aus dem wir ein ungewöhnliches Pesto fabrizieren: samt Fontina-Stückchen, Walnüssen, reichlich Bottega-Olivenöl, Zitronenabrieb, Knoblauch, Salz und Pfeffer. Nein, ich nehme zum Pürieren keinen Granitmörser. Warum? Weil ich, wenn ich etwas anziehen möchte, auch nicht immer erst Hanf anpflanze und mir aus den getrockneten Fasern einen hässlichen Pulli webe.

Zu unserer Frühlingstafel fehlen noch ein paar Oliven, Grissini, zum Nachtisch Schokokuchen à la Moretto, außerdem schwarze und grüne Olivencreme (selbstgemacht oder nicht) sowie – das ist unverzichtbar, sonst wirkt der Zauber nicht – Gorgonzolacreme mit Staudensellerie. Wer’s brutal ehrlich mag, versetzt den absolut nicht unfetten Gorgi mit Mascarpone; ich bin ein Schlaffi, ich nehme Joghurt, aber auch Zitronenzesten, Pfeffer und etwas Salz. Dahinein tauche man die grünsten Stücke des Sellerie: das knackt! Und wer die Frühlingsgöttinnen am mildesten stimmen will, bastelt auch noch ein Vitello tonnato. (He, hallo: bei der Schiacciata und dem Tonnato könnt Ihr natürlich auch vegetarischen Aufschnitt verwenden, aber Letzteres ohne Thunfisch – das ist dann einfach etwas anderes.)

Sind wir gestärkt? Treibt es uns zu Heldentaten? Wie wäre es, wir buddelten alle gemeinsam dieses armselige U-Bähnle, das Ende ’21 so ein bisschen eröffnet wurde, einfach wieder zu? Das Darüber-Liegende ließe sich locker renaturieren. Irgendein dämlicher Slogan wird uns schon einfallen. „Karlsruhe sprosst.“ Ja, das isses! Auf dem neu entstandenen Gelände würden wir Örben Gardening betreiben. Und in die Mitte käme ein Mahnmal hin: mit den Namen all jener drauf, die aus Politik und Gewerbe so richtig profitiert haben von diesem Kokolores. Die Lobbyisten bitte nicht vergessen. Die sind so sensibel.

Doch wenden wir uns noch einmal friedsam gen Süden, unserem Thema zu: Italien! Voller Dankbarkeit für alles, was Generationen anfangs mies bezahlter und übel diskriminierter „Gastarbeiterfamilien“ für uns getan haben, greifen wir zum Italienreisenden Goethe zurück und überschreiben ein bisschen was aus dem „Tasso“… so lange, bis die Meisen dominieren und die Amseln unüberhörbar werden: Lago d’Orta. // Beruhigte Fläche. Zigarrenstille. / Stetes Sitzen auf Terrassen. / Luftschnappenden Tagen entgegen. / Oberitalien. // Wenig lesen. Sämigen Kaffee / aus schweren Tassen. Ausgleich / für des Zweifels Tiefe. // „Und an dem Horizonte löst der Schnee / der fernen Berge sich // in leisen Duft – “

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