Biss zur letzten Rübe – der reinste Genuss (Oktober 2021)
Stadtleben // Artikel vom 04.10.2021
Karlsruher Herbst. Des Lebens volle Wüchze
Eine Kolumne von Johannes Hucke, der die Region seit 2007 mit seinen Weinlesebüchern, Kriminalnovellen und Theaterstücken malträtiert. Mittlerweile versucht er, das INKA-SpaßBlatt mit epikureischem Gedankengut zu destabilisieren. Viel Spaß auch.
In Karlsruhe muss niemand Angst vor dem Herbst haben, wirklich nicht. Dafür gibt es nämlich den Gutenberg-Markt, eine Einrichtung, die sogar andere Jahreszeiten bedient. Aber nie, wirklich nie ist es so schön da wie im Herbst. „Der Herchbst“, pflegte Onkel Hans mit vollem Mund zu dekretieren, mit hachtem „ch“, „der Hechbst ist die Zeit der Wüchze.“ Wir registrieren: Onkel Hans kam nicht aus Karlsruhe, sondern aus Duisburch, sehr sogar. Wüchze war ihm wichtig, zeitlebens. Vor allem beim Verzehr der täglichen Gemüsesuppe. „Elli“ (sie hieß wirklich so). Er strich mit seinem Daumen über den Tisch. „Elli, reich mir maa vonne Wüchze!“ Und während ich an den Lauchfäden erstickte, stülpte er sich die halbe Flasche Maggi in den Suppenteller.
Das ist lange her. Heute gibt es keinen Onkel Hans mehr, dafür Stefans Käsekuchen. Der wird aus einem Wagen raus verkauft, ziemlich Nähe Sophienstraße, erhältlich in Mohn, Kastanie und Käsekuchen. Und in einigen Richtungen mehr; unschlagbar bleibt das Naturprodukt. Schon die Geschichte ist klasse: Der Stefan war ein Hüttensohn, der mit seiner Mutter auf einer – sic! – Hütte lebte… und zwar im Hohen Schwarzwald. Als auch seine Mutter nicht mehr war, blieb ihm nur noch ein Buch derselben, voller Rezepte. Eines aber ward mit dem Vermerk versehen: „Brauchst du nicht backen, ist zu aufwändig!“ Doch er buk, und die Gäste waren´s so zufrieden, dass er bald auf dem Freiburger Münstermarkt einen Stand führte und gar nicht mehr nachkam. Heute hat der Stefan (auch) einen Stand auf dem Gutenbergplatz und beschäftigt Dutzende Bio-Milchviehbetriebe, die ohne ihn und seinen Käsekuchen längst pleite gegangen wären. Schön, nicht? Wer Stefans Käsekuchen im Haus hat, muss keine Angst vor dem Herbst haben.
Allen Ernstes, nachdem ich einmal zwei Ein-Sterne-Köche interviewt hatte, habe ich zweimal eine Zwei-Sterne-Köchin interviewt, die zugab, man könne die Güte dieses Küchleins bestenfalls erreichen, niemals aber übertreffen. Du machst das so: Schneide dir – ganz vorsichtig – ein Stückchen vom Küchlein ab, brühe dir einen Kaffee und setze dich so nah ans Fenster wie möglich. Und während der Kaffeedunst die Scheibe beschlägt, lässt du das erste Häppchen in dich rinnen. Es soll Leute geben, die dabei weinen. Doch keine Angst! Nicht vor dem Herbst und vor dem Käsekuchen schon gar nicht. Denn Zauberei: Dieser Genussmoment ist derart intensiv, dass die Zeit aufgehoben wird. Herbst ist Frühling, Winter Sommer, und es regiert allein der Stefan mit seiner begütigende Geschmacksknospenanarchie.
Freilich, auf die Kaffeezeit folgt der Abend, und das kann im Oktober recht plötzlich gehen. „Und dennoch sagt der viel, der Abend sagt“, dichtete einst Hugo von Hofmannsthal, und der hatte gut dichten, denn es war nicht nur Herbst und Abend, sondern er lebte in Wien, der Hauptstadt der Transformationskräfte: jedwede Lösung wird zum Problem und jegliche Schwierigkeit gewinnt an Magie. An Allerseelen for example futtert man Schinkenbröte an den Gräbern der Liebsten. Aber so weit sind wir noch nicht. Zauberei also: Das geht auch hierzuland, zumindest ein bisschen: Wenn du auf dem Gutenbergplatzmarkt Pilze kaufst. Und sie richtig zubereitest!
Natürlich nehmen wir keine Alufolie. Aber Backpapier, und da kippen wir nun, nachdem wir es eingeölt haben, zwei Handvoll Pfifferlinge drauf, auf ein anderes in etwa so viel Krause Glucke, dann Steinpilze, Totentrompeten und sogar Champignons. Salz, Pfeffer und abermals Öl. Und zu jedem Pilzlein jene Wüchze, die es am liebsten mag, etwa Pfifferlinge Petersilie, Glucke Knoblauch usw. Hernach formen wir Säcklein, setzten sie auf ein Backblech und garen die edle Waldesfracht 20 Minuten lang bei 200 Grad. Hat jemand behauptet, schon mal Pilze gegessen zu haben? Ab jetzt ist das möglich. Prima passt dazu ein Kartoffel-Sellerie-Stampf sowie ein weicher, feiner Grauburgunder.
Immer noch Angst? Hm, könnte pathologisch sein. Was machst du dann erst im November? (s.o., aber siehe auch: „November: Das Nass aller Dinge“ In einem Monat an dieser Stelle!) Greifen wir also zu unlauteren Maßnahmen. Von den Freuden der Verwandlung haben wir ja schon gesprochen; in Frankreich, so sagt man, wird die Kunst des Hexens noch geschätzt. Ganz weit im Süden bedient man sich eines Tricks, der den Sommer verlängert – ungefähr so, wie das Tante Elli (sie hieß so) mit meinem Synthetik-Pulli gemacht hat: einfach mit Wolle in fast der richtigen Farbe unten was dranstricken!
Dazu braucht es Rosé, natürlich einen aus Südfrankreich. Am Mittag, nach dem Besuch auf dem Gutenbergplatz, warst du natürlich in der Südpfalz, Kastanien sammeln – warst du doch? Jetzt ist es ganz einfach: Du ritzt die Kerlchen überkreuz ein, blanchierst sie… und röstest sie auf dem Backblech. Zu den Heißen servierst du kalten Rosé. Wüchzisch, wie? Jetzt bist du imprägniert; weißt, dass du in Karlsruhe keine Angst vor dem Herbst haben musst. Und freust dich sogar auf die nächsten Wochen. Auf die nächsten drei Wochen, um genauer zu sein…
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