Unendlich Region – Probleme ohne Ende

Stadtleben // Artikel vom 14.02.2017

Bewegt man sich abseits der gut frequentierten Lauflinien von Erbprinzen- oder Kaiserstraße, könnte man meinen, es sei Nicht-Verkaufsoffener Sonntag.

Wo die Anziehungskraft der Fächerstadt einst bis nach Bühl gereicht hat, orientiert sich nun selbst der südliche Landkreis Rastatt deutlich um. Und auch weite Teile der übrigen Region fokussieren sich erheblich weniger auf Karlsruhe, wie die Umfrage des Amts für Stadtentwicklung vom Herbst 2016 offenlegt. Und dabei doch die Zustände schönt – denn gleich im ersten Satz findet sich eine churchillartige Statistikverbrämung: „Der Anteil derer, die einmal pro Woche oder häufiger nach Karlsruhe kommen, ist von 27,7 Prozent 2012 auf 19,1 Prozent im Jahr 2016 und damit um 8,6 Prozent gesunken.“ Diese acht Prozent sind in realiter rund 30 Prozent, die Zeit zwischen Baubeginn 2010 und 2012 bleibt komplett außen vor. Bei Planung der U-Strab gab es noch kein Internet und keinen immer weiter anwachsenden Onlinehandel, was diese Stadtplanung nun umso abgründiger erscheinen lässt. Denn andernorts ist man längst auf der Suche nach neuen urbanen Konzepten, die das Kippen vom Einzel- zum Onlinehandel weiterdenken. Etwa drei Viertel der Regionsbevölkerung kauft laut Umfrage im Netz – womit wir bei einer Verringerung der Publikumsfrequenz von 50 bis 60 oder noch mehr Prozent sind.

Das deckt sich nicht ganz zufällig mit den Umsatzverlusten vieler Karlsruher Einzelhändler, die im Übrigen anders als die Ketten brav Gewerbesteuer zahlen müssen und nun an allen Ecken in ihrer Existenz bedroht sind – vom Szeneladen bis zum Traditionsgeschäft wie dem Glam: Jochen Schader war es leid, dass Einkaufserlebnis und Beratung bei Shoppern heutzutage offenbar weniger zählen als der beste Preis, und hat nach 15 Jahren frustriert den Schlüssel umgedreht. Die Räume in bester Lage bezieht nun der zuvor in der Waldstraße beheimatete TIM – Textiles, Interieur und Malerei. Auch Schizo, der Amalienstraßen-Klamottenladen für trendige Bio-Mode, schließt zum 31. März. Kathrin Becker will Schizo weiterhin betreiben – übers Internet... Räumungsverkauf wegen Geschäftsaufgabe ist ebenso beim Einrichtungshaus Markstahler angesagt. Den hat Nicole Poddeys UnikatWirkstatt schon hinter sich, auch wenn das ausnahmsweise mal nichts mit den Baustellen zu schaffen hat. Positiv zu vermerken: die Eröffnung von efbe möbelart, das am Sa, 11.3. von 11 bis 16 Uhr gefeierte Fünfjährige von Romy Ries’ Weststadt-Concept-Store und FaireWares Sortimentserweiterung um die in der Pariser DJ-Szene bereits kultgewordenen Veja-Sneaker, die nicht öko aussehen, aber nachhaltig aus Naturkautschuk produziert werden.

Wer noch keine Probleme hat, dem schafft man welche: Wilde Baupläne kursieren in der Stadt, von der Bebauung von eingeschossigen Supermärkten bis zum Betonieren von Kleingartenanlangen. Ein städtisches Gesamtkonzept für den Wohnungsbau und eine Neukonzeptionierung der Karlsruher City aber gibt es immer noch nicht. Das viele Sparen und dessen Auswirkungen scheinen das (Weiter-)Denken zu hemmen. Denn ausgerechnet in dieser Schieflage sollte noch an der Gebührenschraube gedreht werden! Exorbitant erhöhen wollte man im Zuge der Haushaltskonsolidierung die für Straßennutzung, Werbe- oder Verkaufsstände, Außengastronomie, aber auch Handwerkerparkausweise fälligen Sondernutzungsgebühren. Einer Logik, der man (selbst unter Verweis auf die jahrelange Gebührenstabilität) nur schwer folgen kann. Der Aufschrei aus Einzelhandel und Gastronomie war entsprechend heftig, aktuell sucht man den Ausgleich und ringt um moderatere Erhöhungen. Warum nicht gleich so? Dieser Teil des Sparplans, dem auch das Festival „Frauenperspektiven“ ersatzlos geopfert wurde, hätte verhängnisvolle Folgen für Handel wie Gastronomie, die Karlsruhe seinen letzten Rest an Lebens- und Aufenthaltsqualität gewährleisten und gleichzeitig am meisten von den Baustellen betroffen sind. Und wo sind by the way eigentlich die Mittel geblieben, mit denen die Auswirkungen der Kombilösung gemildert werden sollten? Auch das sogenannte „Kooperationsmarketing“ bedarf endlich einer Neuausrichtung.

Dazu kommt, dass ausgerechnet in der Stadt des Rechts Demonstrationsfreiheit über die Sicherheitslage der City in der bekannt schwierigen Zone zwischen Europaplatz, Stephanplatz und Hirschstraße gestellt wird: Hier sind immer noch keine Videokameras installiert, dafür wird zumeist schon Freitagmittag damit begonnen, den Platz mit Absperrgittern zu möblieren, um Braunhirndemos einzuläuten. Weshalb müssen diese zwanghaft zu 90 Prozent und freitags in der City direkt am Stephanplatz angesiedelt werden? Wenn schon dort, dann montags, wenn zumindest die Gastronomie in größeren Teilen geschlossen hat und der Publikumsverkehr in der City geringer ist. Jede dort genehmigte Nazidemo ist ein mutwillig herbeigeführtes Sicherheitsrisiko für die dort lebende Bevölkerung. Jedenfalls müssen vonseiten der Stadt umgehend alle juristischen Möglichkeiten geprüft werden, um dies zu ändern. Unser Vorschlag: Ab auf den Messplatz, montags, dort dann städtische Getränkestände aufbauen und kräftig abkassieren!

Eine weitere Sofortmaßnahme wäre, den Fokus endlich auf die besucherintensiven Kulturzentren zu legen, allen voran der längst überfällige Umbau des Prinz-Max-Palais. Eine neue feste Spielstätte sucht ja nach wie vor der Jazzclub, auch wenn fürs erste ab März aus organisatorischen Gründen die montägliche „Jam Session“ und die „Jazz Classix“ von der Hackerei in die alte Jubez-Heimat verlegt werden, wo man dank dem bereitstehenden Flügel auch mal wieder einen Jazz-Pianisten einladen kann. Zwingend nach dem angekündigten Abgang des Stadtmarketing-Chefs Norbert Käthler, laut OB ein „strategischer Denker“, der zum 1.4. die Geschäftsführung der Trier Tourismus und Marketing übernimmt, wäre endlich ein gemeinsames Agieren aller, denen Karlsruhe am Herzen liegt – im Sinne der Gesamtstadt. Ob es am Ende auch hier KEG-Allheilsbringer Martin Wacker richten wird? Mit Großevents und Eventserien Publikumsmagnete schaffen ist das eine, die nachhaltige Tagesarbeit das andere.

Der jüngste Geistesblitz des Karlsruhe Tourismus konnte überregional jedenfalls nur für süffisantes Schmunzeln sorgen. Neben dem Universum und der menschlichen Dummheit hat „Süddeutsche“-Autor Titus Arnu nämlich noch eine dritte Unendlichkeit entdeckt (www.sueddeutsche.de/leben/schoen-doof-badischer-groessenwahn-1.3300983): die Unendlich Region, jüngster Marketingsuperdupersuperlativ für den gemeinsamen Außenauftritt von Karlsruhe, Pforzheim und dem Nördlichen Schwarzwald Tourismus. Da passt es nur ins Bild, dass man nach 23 Jahren die als kulturpolitische Interessenvertretung fungierende „Kulturkonferenz der TechnologieRegion“ gecancelt hat. Dort trafen sich regelmäßig Kulturamtsleiter und Kulturinstitutionen der gesamten Region. „Die TechnologieRegion Karlsruhe möchte im Rahmen ihrer anstehenden Neuorganisation ihren Erfolgskurs ohne uns fortsetzen“, erklärte der „Kulturkonferenz“-Vorsitzende Josef Offele, „obwohl viele Kulturakteure diese Entscheidung in Frage stellen“. In der Tat hat sie fatale und fast trumpeske Züge: Die Oberrheinmetropole verliert massiv ihre Anziehungskraft in der Region – daher kündigt man einen fest etablierten Kulturaustausch mit der Region auf? Seit fast zehn Jahren transportieren wir mit INKA Regio Inhalte der Kulturstadt Karlsruhe in die erweiterte Region und nehmen umgekehrt natürlich auch die Region in unserer Berichterstattung mit. Daher können wir über diesen Vorgang nur den Kopf schütteln, so widersinnig ist er. -rw/-pat

Zurück

Einen Kommentar schreiben

Kommentar von Mustafa Shirin |

Servus!

In erster Linie möchte mich ich für Eure tolle redaktionelle Arbeit bedanken. Das INKA Magazin ist nicht nur ein Veranstaltungsbuch, sondern für mich für die neusten Informationen und aktuelle Ereignisse hier aus unserer Stadt. Besser als jede lokale Zeitung! Ich möchte mich gerne zum Bericht „Unendlich Region – Probleme ohne Ende“ kurz äußern. Ihr trefft mit diesem Artikel genau auf den Punkt. Die Anziehungskraft ist nicht nur aus der Region schlechter geworden, sondern allein auch aus den verschiedenen Vierteln kommen immer weniger Leute in die Stadtmitte. Es macht wirklich keinen Spaß mehr in der Stadt zu flanieren, egal ob tagsüber oder abends. Ich selbst wohne mit meiner Frau und Kinder in der Oststadt und wir bewegen uns nur noch in unserem Viertel oder gelegentlich abends in die Südstadt.

Ich will Karlsruhe auch nicht mit anderen Städten vergleichen. Da ich beruflich bedingt in Deutschland sehr viel rumkomme, kann ich langsam die Kultur und Stadtpolitik hier nicht mehr verstehen. Ich möchte auch nicht Karlsruhe mit Stuttgart, München, Köln, Hamburg oder Berlin vergleichen. Aber alleine der Vergleich mit Saarbrücken, Mannheim und Eindhoven reicht schon aus. Die Fußgängerzone mit Restaurants und Cafés in Saarbrücken, der Abendflair in Mannheim, das Licht- und Straßenlampenkonzept in Eindhoven...

Ich finde Euren Bericht sehr umfangreich. Vielleicht sollte man peu à peu versuchen, einzelne Projekte voranzutreiben. Nur ein kleines Beispiel wäre. Diesen Hinterhof in der Kaiserpassage für Autodurchfahrten endlich zu sperren und diese unnötigen sechs Parkplätze wegzuradieren. Von mir aus einen kleinen Brunnen und Kunst hinsetzen. Wie auch immer... Somit erreicht für Fußgänger und Fahrräder eine frei zugängliche Fläche. Eine Stimmung ungefähr wie in Italien. Ruckzuck wäre die Kaiserpassage im vorderen und im hinteren Bereich wieder belebt und somit für den Gastro- und Einzelhandel sehr verlockend. Man müsse sich dies nur mal bildlich vorstellen. Wenn man sich z.B. im obersten Geschoss vom Kurbel-Kino befindet, kann man nach unten schauen und allein diese Einstellung reicht schon für so eine Vision.

Ach wie toll wäre es, wenn man in so einem Hinterhofambiente mit zahlreichen Cafés, Restaurants und Bars an einem lauen Sommerabend mit natürlich ansprechendem Licht Karlsruhe genießen zu dürfen. Klar gibt es diverse weitere Plätze und Möglichkeiten. Aber dies wäre wie gesagt erst mal ein Anfang, da ich ja glaube, dass endlich Karlsruher Leute aus dem Kiez sich wieder mal trauen in die Innenstadt gehen zu dürfen.

Macht weiter so und vielleicht könnt ihr mit diesem Ansatz etwas anfangen.

Danke und freundliche Grüße aus der Oststadt
Mustafa Shirin

Bitte addieren Sie 8 und 8.

WEITERE STADTLEBEN-ARTIKEL