Heidi Herzig, Künstlerin

Porträt
Heidi Herzig (Foto: Lisa Bergmann)

Am 15.7.2019 legte die MS Karlsruhe im Rheinhafen ab. Die 200 Fahrgäste waren teils eingeweiht und teils ganz überrascht davon, dass sie neben der Schifffahrt auch Sekt, Häppchen und ein Schlagerprogramm an Bord erwartete. Die Heidi Herzig Band spielte dort erstmals – und bislang auch zum einzigen mal auf – und servierte die Hits aus ihrem Album „So wie du“. Heidi Herzig eroberte die Herzen auf dem ruhigen Rhein im Sturm. So ehrlich die Musik und ihre lebensnahen Texte gemeint sind, so wenig zielt Herzig darauf ab, eine wirkliche Schlager-Karriere hinzulegen. „Es ist eine Performance – und trotzdem glauben viele, dass ich Schlagerstar werde. Die Fiktion funktioniert gut.“

Beim Namen der Künstlerin geht das Verwirrspiel schon los: Heidi Herzig heißt wirklich so, ist in Dresden geboren und hat in Karlsruhe Medienkunst an der Hochschule für Gestaltung und zuvor Germanistik am KIT studiert. Natürlich beeinflusst der Name das eigene Selbstbild, gibt sie zu. Lange stellte sie ihn in den Hintergrund, nutzte lieber einprägsame Schlagworte oder Pseudonyme, um ihre künstlerischen Arbeiten zu präsentieren. Mit dem Schlagerprojekt hatte dann aber die Stunde der Heidi Herzig geschlagen: „Ich wollte diesen Namen mal so nehmen, wie er ist – als Readymade sozusagen, als Medium an sich.“ Die Überlappungen zwischen Inszenierung und Realität, zwischen Ausgedachtem und Erlebtem ziehen sich durch Herzigs Arbeit und ihr ganzes Denken. Mediale Inszenierung ist ihr dabei oft suspekt: „Viele Leute sind Abbilder der Medien, die sie nutzen. Das sieht man an ihren Bewegungen, darin wie sie sprechen, schreiben oder posieren. Ich versuche, das zu brechen, so zu sein, als stünde ich das erste Mal vor einer Kamera oder auf der Bühne.“ Ihre Sozialisation in Ostdeutschland ist da vielleicht nicht ganz unschuldig: „Mein Opi hat immer gesagt: ‚Heidi, im Westen ist alles nur Show!‘“ Warum geht man überhaupt auf eine Bühne, fragt sich Herzig. Woher kommt das Bedürfnis, sich in den Mittelpunkt zu stellen? Und woher die Sehnsucht des Publikums, Teil so einer Präsentation zu sein? Heidi Herzig zieht ein Zwischenfazit: „Viele Menschen haben das Bedürfnis, hautnah an einem Star dran zu sein, das ist eine Art Religionsersatz.“

Viele Jahre arbeitete die Künstlerin neben ihren Studien in der Produktion: in Fabriken, in der Schwerindustrie, von Siemens bis zu Daimler. Diese Zeit hat sie geprägt und ihren Blick für soziale Kontexte und gesellschaftliche Sehnsüchte geschärft. Die Heidi Herzig Band entstammt der Fabrik, so ihre Frontfrau. Dort hat sie Menschen beobachtet, mit ihnen gesprochen, Gespräche und Redewendungen aufgeschnappt. Oft lief Schlager aus dem Radio, die Musik verband und motivierte die Menschen. Auch in Ausstellungen zeigte Heidi Herzig Relikte und Fundstücke aus der Zeit in der Fabrik. So fanden Lkw-Lack, Stanzteile, Putzlumpen oder Verpackungen ihren Weg in den Badischen Kunstverein, wo die Ausstellung „Im Fluss“ nur vier Tage vor der Schlager-Schifffahrt eröffnete. „Im Fluss“ entstand in Zusammenarbeit mit Ben Öztat, einem Absolventen der Karlsruher Kunstakademie. Zwar zeigten beide dort eigene Arbeiten, doch stellten sie diese in verschiedenen Stationen zueinander in Bezug. Großformatige Zeichnungen von Öztat kontextualisierten Herzigs Fabriksammelsurien, einzeln entstandene Text- und Bildblätter sponnen in Kombination neue Erzählstränge. Hier fand auch ein sloganartiger Merkzettel aus der Fabrik Platz: „Selektieren Sortieren Säubern Standardisieren Selbstdisziplin.“ Ihrem ursprünglichen Kontext entrissen nimmt die Arbeitsanweisung lyrische Züge an.

Heidi Herzig begreift das Collagieren als zentral für ihre künstlerische Arbeitsweise. Skizzen, Gefundenes, Ideen, Versatzstücke aus verschiedensten Kontexten werden zur Assemblage, erhalten in Kombination eine neue Erzählung und Bedeutung. „Ich habe ja auch unter anderem Dokumentarfilm studiert und dabei gelernt, mir jegliche Form von Notizen zu machen. Aus diesem Fundus schöpfe ich. Ich habe Material und ordne es an. Dabei geht es nicht nur um Text, es gibt auch Objekte, Video oder Sound. Und gefühlt ist auch immer der Körper mit dabei, denn ich habe lange getanzt“, bekennt die Medienkünstlerin. Moment, Medienkunst? „Ich finde, man ist nur Künstlerin, wenn man auch etwas ohne Strom machen kann“, lacht Heidi Herzig, und dennoch versucht sie in jeder Ausstellung auch „eine Arbeit mit Steckdose zu haben.“ So hat sie auch schon mal ein 20 Meter langes schwarz-weiß gestreiftes Kabel ausgestellt.

Auch die mehrjährige Arbeit „Auf der Reling – Spuren an einem Element“ nahm ihren Anfang in einem Fundstück: Auf einer der Lichtbrücken in den Hallen der HfG fand Herzig einen Raum im Raum vor – einen handgezimmerten kleinen White Cube, der darauf hinwies, dass der Kunsthochschule ein Präsentations- und Improvisationsort für die Studierenden fehlte. Herzig nahm sich diesem an und ließ ihn zusammen mit Öztat zu einem belebten und viel bespielten Ort innerhalb der Hochschule werden, der auch der Öffentlichkeit während der großen „Sommerloch“-Ausstellungen zugänglich war. Dem sozialen Kontext der Hochschule entsprungen wurde die Reling 2017 (bereits nach ihrem Abriss) mit dem Preis der Badischen Beamtenbank ausgezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt hatten schon zahlreiche Ausstellungen, Performances und Konzerte, aber auch Gespräche, gärtnerische Aktionen oder Tischtennisturniere auf der Reling stattgefunden. Im Laufe ihres Entstehens schrieb sie ihre eigene Narration und wurde mit den Interaktionen der Studierenden aus den verschiedenen Fachbereichen der Hochschule gefüllt. In den Hallen der ehemaligen Munitionsfabrik war eine neue, temporäre Fabrik entstanden – ganz gemäß des kollektiven Kunstbegriffs von Heidi Herzig.

Die Künstlerin glaubt an kollektive Kreativität und dass deren Bedeutung zugenommen hat: „Es liegt in der Luft! Eigentlich ist es ja urmenschlich: Man erzählt sich Dinge weiter, gibt sich Tipps und da springen ganz unbewusst und automatisch Inhalte und Ideen rüber. Wenn man mit jemandem spazieren geht und er sagt: ‚Schau mal – da!‘, dann nimmt man direkt den Blick der Person ein.“ So funktioniert Kreativität, so funktioniert Kunst. Niemand schöpft aus sich allein. Bei Heidi Herzig ging diese Haltung so weit, dass sie lange hinter ihren Projekttiteln verschwand. Mittlerweile sieht sie aber auch darin ein problematisches Moment, nämlich sobald andere daran beteiligt sind. Auf der MS Karlsruhe war sie neben Jason King die Einzige, die ihren bürgerlichen Namen preisgab – die Band und die ProduzentInnen traten unter Schlagerkünstlernamen auf. Bei der Online-Aufbereitung des Bandprojekts möchte Herzig dies ändern und den Menschen, die ihr Projekt erst mit entstehen ließen, namentlich Tribut zollen. „Es gibt unterschiedliche Zonen der Öffentlichkeit. In der direkten Show agiert man in der Verkleidung. In der anderen Öffentlichkeit, die hinter den Vorhang schauen möchte, sind die Dinge transparent. Ich will damit kein subversiv-geheimes Performance-Kollektiv betreiben.“

Der Druck, immer unter öffentlicher Beobachtung zu stehen, wurde für Schlager-Königin Heidi Herzig nach ihrer Tour jedoch so groß, dass sie sich im Herbst 2019 ins Kloster zurückzog. Zehn Monate lang bewohnte sie das Kloster St. Franziskus in Weiherfeld-Dammerstock, zog sich zurück und beobachtete das natürliche und geistliche Leben. Hier sponn sich die Geschichte der fiktiven Heidi Herzig weiter: Streng lebte sie im Kloster nach der Ordnung von San Franziska, hatte feste Tagesrituale, die sie fotografisch und filmisch festhielt und eine Woche lang per Stream teilte. Als spirituelle Basis diente ihr der Leitspruch „Bora Bora“, der auf die (natürlich ebenso fiktive) Unternehmensberaterin Franziska Sommer zurückgeht, die bis 1992 im Kloster gelebt hatte. Bora Bora als Sehnsuchtsort für viele Arbeitnehmer ist bekannt für sein klares, blaues Wasser. So zog sich die Farbe Blau durch die künstlerischen Aktionen in San Franziska. Ab und an suchte Herzig in besonderen Momenten jedoch das „Schlager-Feuer“ heim – die glühenden Erinnerungen an die heiße Zeit im Sommer auf Tour flackerten wie Sehnsuchtpostkartenmotive vor ihr auf. Bilder vom Tourneekleid und Refrains aus der Ferne begannen zu glimmen. Schließlich fand Schlager-Sänger José Heidi nach langer Suche im Kloster auf und inspirierte Heidi zum Verlassen der Ordnung, zum Wiedereintritt in die säkulare Welt.

Dort ist mittlerweile die U-Strab fertig gestellt. In der Eröffnungswoche spielte Heidi Herzig (die Künstlerin, nicht die Schlager-Sängerin) ein Konzert mit ihrem Performance-Duo Der letzte Dutt in der Haltestelle Marktplatz. Einen besonders pikanten Beigeschmack bekommt diese Show durch die Petition, die die Künstlerin einst wegen des ohne öffentliche Ausschreibung durchgeführten Entscheidungsprozesses zur Gestaltung der U-Strab-Haltestellen mit Kunst von Markus Lüpertz gestartet hatte. 2023 wird die Geschichte der Heidi Herzig Band ein neues Kapitel bekommen: Das zweite Album steht an, eine Tour soll folgen. Mit dabei ist natürlich auch José. Das Schlager-Feuer lodert wieder. -fd



Zurück