9. Tempel-Tanzfestival
Bühne & Klassik // Artikel vom 17.11.2009
„Tanzen ist die Poesie des Fußes“, erkannte der englische Dichter John Dryden.
Eine Feststellung, die ihren Wahrheitsgehalt auch über drei Jahrhunderte später nicht eingebüßt hat. Wenn man so will, schöpft der Kulturverein Tempel in Kooperation mit der Tanztribüne also sein lyrisches Potential voll aus (immerhin stehen beim 9. Tanzfestival in der Scenario-Halle nicht weniger als zwölf Veranstaltungen an); spricht dabei gleichzeitig die unterschiedlichsten Sprachen und die eine, universelle.
So bringt das vielseitige Programm modernen Tanz aus Spanien und Deutschland, dem Iran und den USA, ja sogar aus Stuttgart und Karlsruhe unter einem Dach zusammen. Dem Charme des über die Jahre inhaltlich und konzeptionell erweiterten Festivals ist diese getanzte interkulturelle Kommunikation von Rang und Namen natürlich sehr zuträglich. Kein Wunder, dass es sich immer mehr zum Publikumsmagneten entwickelt.
Chanta la mui / Lange Nacht der Kurzen Stücke
In der Eröffnungsveranstaltung vom 11.11. mit Olga Pericet, Daniel Doña und Marco Flores, die unter dem Namen „Chanta la Mui“ firmieren, wird der zeitgenössische Flamenco in seinen vielen Facetten beleuchtet, dessen Interpretation die drei Tänzer auch weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt Madrid bekannt gemacht hat. Dass die „Lange Nacht der kurzen Stücke“ unter einem schlechten Stern steht, nur weil die erste der beiden Veranstaltungen in diesem Jahr ausgerechnet auf Freitag, den 13.11. fällt, kann man nun wahrlich nicht behaupten.
Der Dauerbrenner der Festivalgeschichte, bei dem sich die regionale Tanzszene mit zehn- bis 15-minütigen Stücken pro Ensemble vorstellt, ist immer pickepackevoll und zeigt die große Spannweite auf, die in Karlsruhe und Umgebung auf die Bühne gebracht wird. Wer hier noch ein Plätzchen ergattern möchte, muss sich sputen.
Tanz-Gala
In Stuttgart wird jährlich das Internationale Solo-Tanz-Theater-Festival ausgerichtet, bei dem junge Choreografen und Tänzer vier Tage lang moderne, individuelle und vor allem aussagekräftige Charakterstücke jenseits jeder Vorhersehbarkeit und Abnutzungserscheinung präsentieren. Die aktuellen Preisträger sind nun im Rahmen einer Gala unter der künstlerischen Leitung von Marcelo Santos im Tempel zu sehen (So, 15.11., 20.30 Uhr). Die gebürtige Kanadierin Helen Simoneau, die für „The Gentleness Was In Her Hands“ mit dem ersten Preis in der Kategorie Choreografie und dem dritten Preis in der Kategorie Tanz ausgezeichnet wurde, setzte sich mit ihrer „Ode an die Kunst des Fühlens und Tastens“ gegen 250 Mitbewerber durch.
Genau andersherum liegen die Platzierungen für Teresa Alves da Silvas „Lake“ (erster Preis Choreografie; dritter Preis Tanz), zu dem die Stuttgarter Nachrichten schrieben: „In ‚Lake‘ ist der Text eines Briefes von Ossip Mandelstam aus dem Gefängnis in ungewöhnlich weiche, pirouettenhafte, in alle Richtungen des Raumes zielende Bewegungen mit zarter Poesie umgesetzt.“ Auch die Zweitplatzierten sind natürlich in der Gala vertreten: „Monogram“ ist ein Stück über Identitätsfindung (Choreografie: Tomi Paasonen, Tanz: Kiriakos Hadjiioannou); „Conductivity“ setzt sich mit der Fähigkeit und Unfähigkeit, mit Veränderungen umzugehen, auseinander (Choreografie: Sidra Bell, Tanz: Shamel Pitts).
Johannes Wieland „Newyou“
Johannes Wieland kreiert ein abstraktes Repertoire voller Metaphern, indem er sich von den unterschiedlichsten Ausgangspositionen aus zeitgenössischem Tanz zuwendet, die Entwicklungen aber auch für das Publikum nachvollziehbar macht. „Furchtlos ist dieser Choreograph – witzig und intelligent“ lobt die Fachwelt in den höchsten, aber tatsächlich nachvollziehbaren Tönen.
Der ehemalige Solist des Béjart Ballet Lausanne und der Berliner Staatsoper gründete 2002 seine eigene Company und wirkt zudem als Direktor des Tanzensembles des Staatstheaters Kassel. In „Newyou“, das 2008 in New York unter seiner Leitung uraufgeführt wurde, stellt Wieland Tanz, Performance-Art und Videokunst gegenüber. Das 90-minütige, multimediale Stück dreht sich um das komplexe Wechselspiel zwischen Glück und Selbsttäuschung (Fr, 20.11., 20 Uhr).
Ballettensemble Theater Regensburg
Seit der Spielzeit 2004/05 ist Olaf Schmidt Ballettdirektor am Theater Regensburg und macht mit zahlreichen, speziell für das dortige Ensemble entwickelten Uraufführungen (u.a. „Mozart – Requiem“, „Babylon“, „Endstation Tennessee“) auf sich aufmerksam. „Hundert Jahre Einsamkeit“ greift den gleichnamigen Roman von Gabriel García Márquez auf, dessen vielfältige Erzählstränge es in Bewegungen zu kleiden versucht. Die wichtigsten Entwicklungen wurden dafür zwangsläufig destilliert, denn sonst würde die Choreografie jeden Rahmen sprengen.
Das zentrale Thema des an Motiven reichen „poetischen Bilderbogens“ ist die Einsamkeit, die im Beziehungsgeflecht einer ganzen Heerschar von Personen über Generationen hinweg immer wieder durchschimmert. Olaf Schmidt und die Dramaturgin Christina Schmidt wählen für die Umsetzung eine Mischung aus klassischem Ballett, Tanztheater und Pantomime zur Musik von Heitor Villa-Lobos, Victor Jara und anderen. Obwohl die Gefahr groß ist, tappen sie bei der Umsetzung des monumentalen Werkes nicht in die Folklore-Kitsch-Falle, sondern liefern ein zweiaktiges Werk von „atmosphärischer Dichte“ ab.
Das zweite Stück des Abends wirkt ungewöhnlich, war in Regensburg aber ebenfalls ein großer Erfolg: Alister Noblet widmet „Kazu Kun“ seinem behinderten Schwager, der weder hören noch sehen kann, und dessen Schwester, die als einzige mit ihm kommunizieren kann, indem sie ihm Zeichen auf die Handfläche „schreibt“. Anstatt auf die Tränendrüsen zu drücken, erschafft Noblet ein Werk von enormem Tiefgang, das die Qualen des Gefangenseins im eigenen Körper ebenso widerzuspiegeln vermag wie die Momente des Glücks, die zwischen den Protagonisten entstehen. Besonders Ayumi Noblet als Schwester erhielt für ihre aufwühlende, zu Herzen gehende Performance viel Beifall. Man darf auf das Gastspiel in Karlsruhe gespannt sein (Sa, 21.11., 20 Uhr).
Jugendprojekt „Move The Music“
Das Projekt „Move The Music“ von Lior Lev (Tänzer, Choreograf) und Gereon Müller (Dirigent, Musikpädagoge) versucht das verbindende Element von Tanz und Musik für Jugendliche zugänglich und verständlich zu machen. Teilnehmer mit unterschiedlichem Background aus der Region Stuttgart erarbeiten dafür gemeinsam mit professionellen Tänzern und Choreografen ein Stück, wobei sie neue Bewegungsformen ausprobieren und den Entstehungsprozess einer Aufführung von Anfang bis Ende miterleben können.
„Ich glaube, dass eine solche Erfahrung das Bewusstsein der Jugendlichen für immer verändern kann“, erklärt Lior Lev angesichts der diesjährigen, mehrwöchigen Probenphase mit Sonia Santiago, ehemalige Erste Solistin des Stuttgarter Balletts und Tanzpädagogin. 2009 steht die „Dance Symphony“ (1931) von Aaron Copland im Mittelpunkt der Arbeitsphase. Copland zählt zu den kreativsten und eigenwilligsten amerikanischen Komponisten des Jahrhunderts – eine Choreografie in seinem Geiste scheint geradezu obligatorisch (So, 22.11., 17 und 20 Uhr).
Zeitgenössischer persischer Tanz
Dass man über die Kunst der Bewegung und des Klanges auch Zugang zu fremden Kulturen erhalten kann, liegt auf der Hand. Die Chance, zeitgenössischen persischen Tanz zu Live-Musik zu erleben, sollte man sich daher nicht entgehen lassen. In „Into the Vast“ von Banafsheh Sayyad werden traditionelle Ausdrucksformen mit postmodernem Gestus und Improvisationen verwoben, bis sie einen charakteristischen Stil ausbilden, der über allen kulturellen Grenzen zu schweben scheint.
Dabei treffen zum Beispiel Sufi-Rituale auf Flamenco. Ein Kaleidoskop unterschiedlichster Richtungen entsteht – und das ganz ohne seltsames „Geschmäckle“, das derartige Mischungen sonst nur allzu gern annehmen. Eine weitere besondere Note bekommt die Performance durch die Live-Musik des Percussion-Ensembles Zarbang. Dieses wird aktuell durch Hakim Ludin unterstützt, den man als ebenso umtriebigen wie weltoffenen Jazz- und World-Perkussionist kennt. Er war unter anderem bereits mit Konstantin Wecker auf Tour (Do, 26.11. und Fr, 27.11., jeweils 20.30 Uhr).
Tanztheater: „Zwischen Häuten“
Mit „Zwischen Häuten“ gewann die Choreografin Nicki Liszta den Stuttgarter Theaterpreis 2008 und die Presse jubelte: „Ein Abend voll surrealem Witz, mit herrlich abstrusen Ideen und heftigem Körpereinsatz … frecher, origineller und einfach viel pinabauschiger als der Rest der freien Tanzszene Stuttgarts.“ Dabei klingt die Ausgangssituation in dem rund einstündigen Tanztheater erst einmal gar nicht nach leicht verdaulicher Kost, denn Liszta widmet sich dem Beziehungsgeflecht dreier Menschen zwischen beiläufigem Miteinander und hochexplosiver Eskalation.
Dass sie die alltäglichen Dramen nicht zu einer anstrengenden Individualstudie hochstilisiert, die schwer im Magen liegt, sondern ihnen gleichwohl satirisch überspitzt als auch liebe- bis verständnisvoll begegnet, muss man der Künstlerin, die auch mit dem Kollektiv „backsteinhaus produktion“ Improvisationen und Happenings inszeniert, hoch anrechnen (Sa, 28.11., 20 Uhr).
„Voodoo Vibes“
Zum Abschluss des 9. Tanzfestivals geben sich Hoodini alias Poppin Hood und Voodini alias Marco Marçal die Ehre. That’s magic, pardon: „Magic HipHop Dance Theatre“. Das schaurig-schöne Tanzspektakel der beiden Künstler befreit nicht nur auf nahezu magische Weise urbane Tanzkunst – unter anderem mit Einflüssen aus Electric Boogaloo, Poppin und House – aus dem Nischendasein der Off-Kultur, sondern bietet auch einen Rundumschlag aus Schauspiel, Video- und Klanginstallationen sowie Percussion. Dabei dürften die Zuschauer abgesehen von der fesselnden audiovisuellen Packung auch die herrlich schräge Story ins Herz schließen.
Hoodini entdeckt eine offene Tür, geht in den Raum hinein und sitzt plötzlich in einer Falle, die ihm Voodini gestellt hat. Der treibt allerlei Schabernack mit seinem „Kollegen“, ist aber selbst auch nicht mehr als eine Marionette in einem anfänglich undurchsichtigen Beziehungsgeflecht. Wer hier am Ende der Böse ist, wird an dieser Stelle natürlich nicht verraten. Nur so viel: Humor und Spannung schließen sich nicht aus (So, 29.11., 20 Uhr). -er
11.-29.11., Kulturverein Tempel, Scenario Halle, Karlsruhe
www.kulturzentrum-tempel.de
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