Biss zur letzten Rübe – Landlieblingsplätzchen (November 2022)

Stadtleben // Artikel vom 01.11.2022

Hygge jetzt auch für Arme!

Eine Kolumne von Johannes Hucke, der seit 2007 die Region mit seinen Weinlesebüchern, Kriminalnovellen und Theaterstücken malträtiert. Jetzt versucht er, INKA mit epikureischem Gedankengut zu destabilisieren. Nach einem Jahr Karlsruher Gourmet-Szene balanciert Hucke nunmehr auf den Strahlen der Kompassrose ins Offne. Während der klassische „Tagesausflug“ einst einen durchaus bedrohlichen Beiklang hatte, heißt das heute ODV: One Day Vacation! Gegenüber einer Flugreise nach Paumotu bietet der Ein-Tages-Urlaub jede Menge Vorteile: Er ist kostengünstiger, du kannst den Genusspegel schon vorab nach Belieben einstellen, und wenn du mal abstürzt, dann höchstens in die Arme deines Lieblingskellners.

Habt ihr das Rundschreiben neulich mitgekriegt? „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet ist etc., werdet ihr feststellen, dass man Reiche auch essen kann.“ Da hat mal jemand weitergedacht. So wollen auch wir, bevor wir uns brav über unser Instant-Gemüsebrühlein beugen, kurz visualisieren, wo es gerade sonst noch dampft. Aus großen Designerteetassen nämlich, in denen die First-Flush-Füllung zehn Euro kostet, balanciert von Menschen in Flauschbademänteln, die sich in Zeitlupe durch ihre Lofts bewegen, eingerichtet wie ein Dampfbad. Sie lächeln immer und sind sehr schön und sehr flauschig, und sie dampfen auch. Ihre einzige Erregung im Tageslauf ist das Brettspiel. Auch die Liebe ist eindampft auf die Funktion, für flauschige Nachkommen zu sorgen. Der jeweilige Typ tippselt zufällig in der IT-Branche („Ist aber voll nett!“), die Typeline eigentlich auch und sieht aus wie 1,5 Models („Ist aber voll schlau!“).

Dieser – beinahe hätte ich gesagt Lebensstil – Dämmerzustand heißt Hygge. Und kostet viel Geld. Das irgendwer dann nicht mehr hat. Aber die schnuffigen Profiteure der Umverteilung nach oben. Für jeden Scheiß ist da Knete vorhanden, etwa für sauteure Lebensmittel. Handytelefonat im Füllhorn: „Du, Mahark, soll ich noch maa 30 Paar Öko-Merguez für den Grillabend mitnehmen?“ 30 Paar: ca. zwei Monatseinkommen einer Lageristin. Man kann diese sozialdarwinistischen Knuddelwesen nicht mal an ihre Laptöpchen binden und in den Rhein schmeißen, dafür sind sie leider zu schwimmfest… Und ihre Tippselmaschinen viel zu leicht und bestimmt auch noch wasserdicht. Ich habe mir überlegt, mich in Johannes Hyyge umzubenennen. Um auf die Siegerseite zu wechseln. Es kam anders. Aber auch jenem anderen, neuen Leitbild möchte ich mich nicht anschließen, eigentlich gar keinem: Nachdem jahrzehntelang der Serienkiller die meisten Sympathien auf sich vereinen konnte, ist nun das Sparfüchslein dran: listig, überaus findig, in Bausparkassenoptik. Habt ihr den Song von Blumfeld noch im Ohr? „Die Diktatur der Angepassten“. In Oberschwaben mögen sie sich ja mit der Rolle des fleißigen Kuschers identifizieren, insgesamt ist das aber ein kulturhistorischer Rückfall in die Jahrhunderte der Kirchenpolizei, der Kaffeeschnüffler und der wahnsinnigen Mönche, die sich den Gürtel so lange so fest um den Leib gewunden haben, bis er schließlich… Aber lassen wir das.

Fügen wir uns den Notwendigkeiten des Novembers. Gehen wir nicht über Los, ziehen auch keinen Trüffel ein, sondern – äh – Eintopf. Der war doch fast ausgestorben? Fristete ein unbeäugtes Dasein in den Plastikschalen der Werkskantinen oder, von höhnischen Chemikern eingedost, im Regal, mit altdeutschen Namen: Landser-Napf, Germanen-Topf, Schürzen-Liesels Mittagsschnupfen. Nichts da, wir machen was Gutes! Aber günstig muss es sein / wie das Suppengrün vom Rhein: Große Zwiebel bitte hälften und bräunen, dann Fett dazu, Lauch grob schneiden, damit er uns nachher im Halse würge, Karotten-, Sellerie-, Kartoffelwürfel. Umrühren, heiß Wasser. Klassisch würzen mit Muskat, Liebstöckel, vielleicht etwas Majoran, S&P. Gegen Ende der Köchelzeit anstampfen. – Das konnten schon die alten Germanen.  Wenn wir genug Kartoffeln genommen haben, sind wir schon fertig: Zur K-Suppe reichen wir Dampf(!)nudeln. Kippen wir fünf Minuten vor Schluss eine Dose Erbsen dran, gibt’s Brötchen. Zu weißen Bohnen kommt Salbei und Knoblauch und Kastenweißbrot. Mit Linsen und etwas Essig verlangt die Geschichte nach Spätzle. Tja. Und eigentlich Saiiidewürscht… Jede dieser One-Pot-Four-In-One-Bowls tendiert ja zu Vierfüßern, sogar zu deren Füßchen, die dann aber nicht mehr dran sind. Über Ersatzprodukte muss ich euch nix erzählen. Es geht aber auch tatsächlich ganz ohne, vor allem, wenn vor dem Servieren ein Butterklumpen in der Hitze zerging. – Weitere Vorschläge? Spaghetti aglio olio peperoncino, Hauptmahlzeit für unter einen Euro! (Problem: der Parmesan …) Oder auch: Gerichte aus Altbrot. (Warning: Dieser Abschnitt enthält Eigenwerbung! Da kommt demnächst ein ganzes Buch von mir drüber raus.) Oder es gibt Reis (, Baby): Marsalas mit Hülsenfrüchten können ja so billig sein. Hauptsache, ihr habt beim Futtern eure Kuschelsocken an und blickt so sinnlos überglücklich drein wie diese Eisbärmenschen aus dem Hygge-Hotel. Morgens „bissel heize, dass bissel überschlaaage isch“ (Tipp vom Handwerker), abends aber auch, „dass bissel hyggelig isch“ (Tipp von mir). Wenn – gerade bei Frauen – die Nase trotzdem rot bleiben sollte, bitte nicht in den heißen Eintopf (s.o.) tunken, davon wird sie noch röter. Sondern selbstgestrickte Nasenwärmer tragen! Das dämmt jedwedes Zeugungsverlangen zu 95 Prozent, und wir sind ja eh schon viel zu viele. Die restlichen fünf Prozent? Special Interest, die wollen keine Kinder. Außer so welchen, die mit notzeitangepassten Flauschbademänteln zur Welt kommen und bereits dänische Vornamen tragen. Dann haben die wenigstens Aufstiegschancen zu einer Welt der „digitalen Schnuller im Überwachungskapitalismus.“ (Nicht von mir. Von Jaron Lanier. Das auch:) „Ohne Menschen sind Computer Raumwärmer, die Muster erzeugen.“ Also: Heizt einfach mit euren Computern! Die kann man zwar nicht essen, aber anzünden. Auf der nächsten Barrikade, z.B.

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